[Laudatio beim] Zuger Anerkennungspreis 1999 an Erich Langjahr 

Von Jean Perret

Übersetzt von Elisabeth Brungger


EIN HUNGRIGES AUGE

Ein paar Gedanken zum Werk des Filmemachers Erich Langjahr


Sie wissen wie ich, dass eins und eins nicht zwei, sondern drei gibt. Zumindest bei Filmen mit starken Bildern. Doch Bilder, seien sie stark oder schwach, gibt es in einem Film nur als Einstellungen. Eine Einstellung ist die Grundeinheit, bestehend aus einer ununterbrochenen Aufnahme. Ein Zeit- und Raumfragment. Beim Schnitt klebt der Filmemacher eine Einstellung an eine andere, dann an die nächste, die übernächste, die überübernächste, bis es nichts mehr anzufügen gibt. Doch eine starke Einstellung plus eine starke Einstellung ergeben nicht zwei starke Einstellungen, sondern etwas Drittes, das imaginäre Bild, die Idee, die Vorstellung, welche die Begegnung zwischen zwei Einstellungen andeutet.
Was ist eine starke Einstellung? Sie ist weder Gag, noch Zufall noch Anekdote, sondern im Gegenteil vigourös kadriert, präzise in ihrer Dauer entwickelt, vom Filmemacher wirklich gewollt und für den Film nötig, oder sogar unerlässlich. So gibt im Kino von Erich Langjahr eins und eins drei. In seinen besten Filmen entsteht aus dem Aneinanderreihen von zwei Einstellungen ein drittes Bild, ein imaginäres Bild, eine Inspiration.

Das Können des Filmemachers liegt zunächst in seiner Fähigkeit, über verschiedene Erzählungen und Gestalten Zeugnis von der Realität der Welt abzulegen. So konkret wie möglich. Auskundschaften, auseinandernehmen, entdecken, hinterfragen - mit Hartnäckigkeit und einem ausgesprochenen Sinn für eine beharrliche und bisweilen wohltuend Neugierde. Erich Langjahrs Filme sind zunächst einmal Teile einer sorgfältigen und genauen Untersuchung der materiellen Realitäten unserer Kultur und allgemeiner unserer westlichen Zivilisation. Der Autor gibt Appetit zum Hinschauen, seine Einstellungen leben von seiner Freude am Beobachten und am Weitergeben seiner Erfahrungen. Kino der Materialität von Tatsachen und Handlungen, handfeste Einstellungen der Wirklichkeit.
Und gleichzeitig bietet der Filmemacher abstrakte Visionen, gewissermassen virtuelle Bilder, die aus der Verbindung der Einstellungen entstehen. Eine konkrete Einstellung plus eine weitere konkrete Einstellung ergeben ein geistiges Bild, das der Zuschauer nach seinem Geschmack gestaltet. Dieses Kino ist Träger von Weltanschauungen. Langjahrs Filme sind sehr konkret, eins zu eins mit den Realitäten, den Zeugnissen, den Erinnerungen, den Stimmen, den Gesichtern. Und diese gleichen Filme sind paradoxerweise abstrakt. Sie vermitteln Ideen, die unsere Intelligenz anregen, unsere Phantasie befruchten und, sofern noch nötig, unseren analytischen und kritischen Geist stärken. Das Kino, das wir lieben, das wir brauchen, wendet sich an unsere individuelle und kollektive Vorstellungswelt, es besteht aus Erzählungen, aus Erinnerung. Und vor allem erzählt es unerwartete, noch nie zuvor gesehene oder gehörte Geschichten. So gesehen ist Erich Langjahr ein echter Geschichtenerfinder. Dabei denken wir insbesondere an Ex Voto, einen dichten und komplexen Film, ein Porträt und Selbstporträt, eine Suche nach der eigenen Identität und ein Versuch, den Begriff Heimat zu definieren.

Erich Langjahr ist kein Ideologe und schon gar kein dogmatischer Politiker. Er wirft nicht mit endgültigen Wahrheiten um sich. Seine dokumentierten und nach Dramaturgien aus dem Spielfilm konstruierten Filme sind sehr ernst und bisweilen lustig, sie werden getragen von einem offensichtlichen Humor und gleichzeitig von einer tiefen Achtung vor den gefilmten Menschen und Ereignissen.
Seit Beginn der 70er Jahre nimmt Erich Langjahr zunächst mit kurzen und sogar sehr kurzen Filmen (Achtung Kinder Pumm dauert drei Minuten) am schweizerischen und europäischen Filmschaffen teil mit einem ausgesprochenen Verantwortungsbewusstsein, wie es dem Kino der "nouvelles vagues" eigen ist: Der engagierte Film sagt, was zu sagen ist, spricht Unbehagen und Protest laut und deutlich aus, fordert mit den leichten Techniken des Cinéma direct eine direkte Beteiligung an der öffentlichen Diskussion.
In diesem Umfeld positioniert sich Erich Langjahr exemplarisch als Staatsbürger, der seine Verantwortung auf der Bühne des öffentlichen Lebens wahrnimmt. Hierhin kommt er, um seine Entdeckungen zu teilen, seine Überzeugungen zur Diskussion zu stellen, seine Ideen an jenen der anderen zu messen. Hierhin kommt er auch, um Solidarität zu suchen.
Er kommt aus seinem Atelier, einem echten kleinen und autonomen Unternehmen, das es ihm ermöglicht, ein im wahrsten Sinn unabhängiger Filmemacher zu sein, er kommt von Zuhause, von da, wo sein Leben, seine Familie, das Kino zu Hause sind, und betritt die öffentliche Sphäre. Als grossartiger Handwerker, der über das gesamte Know-how aller Kinoberufe verfügt, hat er mit geradezu minuziöser Sorgfalt seine Filme gedreht, die er nun mit nicht weniger minuziöser Sorgfalt in den Städten und Dörfern vorführt. Denn der Filmemacher glaubt felsenfest an den Wert der öffentlichen Auseinandersetzung, und er weiss, dass das Kino diese Kunst der Kommunikation und der Emotion sein kann, die die Geister weckt und die Zungen löst.

Erich Langjahr ist ein Filmemacher und ein Staatsbürger, dessen Verantwortungsbewusstsein im Ungehorsam gegenüber den effekthaschenden Bildern, den rasch zusammengestellten Reportagen, den Zufallsgeschichten, die unsere Bildschirme und Leinwände überfluten, besteht. Es gibt bei ihm eine Überzeugung von berührender Grosszügigkeit, das Anliegen, seit nahezu dreissig Jahren Filme zu machen und Filme zu zeigen. Ich glaube, Erich Langjahr hat es verstanden, ein wertvolles Stück Kindheit in sich zu bewahren, das ihm trotz der Härte des Kinomilieus eine sehr reine Kraft, ein Engagement ohne Berechnung schenkt. Denn dem unabhängigen Kino geht es nicht sehr gut. Die Finanzierung, aber auch die Möglichkeiten für die unerlässliche Verbreitung, sind nicht einfach zu finden. Doch ich glaube, dass es nicht nötig ist, hier von der allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für unabhängige Filmemacher zu sprechen oder darauf hinzuweisen, dass Erich Langjahr zusammen mit anderen zu dieser unentwegten Widerstandsfront in der Welt des Kinos gehören.

Doch, eines noch. So wichtige Filme wie Unter dem Boden, Männer im Ring, Sennen-Ballade und Bauernkrieg tragen zwei Unterschriften. Die von Erich Langjahr und die von Silvia Haselbeck, Erichs Lebensgefährtin. Das Bild und der Ton. Sehen Sie, er und sie bilden nicht zwei, sondern drei - denn da sind ja eben auch ihre zutiefst inspirierten Filme. Zwischen der vom Untergang bedrohter Harmonie (man denke an Sennen-Ballade, der poetischen aber auch anthropologischen Bestandesaufnahme eines gefährdeten Gleichgewichts zwischen Kultur und Natur) und der Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und politischen Mächten (der Titel ihres letzten Films ist deutlich: Bauernkrieg), zwischen poetischem und politischem, realistischen und visionärem Ansatz suchen Erich Langjahr und Silvia Haselbeck einen dritten Weg, den Weg, den ihre Filme erschliessen. Er liegt im lebenswichtigen Bedürfnis nach Verstehen und Zeugnis ablegen und im grosszügigen Wunsch nach Utopien.

Danke, Erich und Silvia, für diese Filme, für diese erschlossenen Wege und für Eure Beharrlichkeit.

Jean Perret
20. November 1999

 


© 2002 Jean Perret - langjahr film gmbh – Zum Seitenanfang